Über die Freimaurerei
Vorbemerkung
Alte Logen-Hasen und solche, die gerade in Amt und Würde stehen, pflegen sich zuweilen auf die Schultern zu klopfen und selbstironisch festzustellen, dass die Freimaurerei eine wunderbare Sache sei, wenn es bloss keine Freimaurer gäbe. So mag es auch demjenigen ergehen, der, von einem kleinen oder grösseren Wirbel rund um den Tempel der Humanität aufgescheucht, in seinen Erwartungen irritiert oder in seinen Vorurteilen bestärkt wird.
Von solchen Sturmböen werden gelegentlich auch die Freimaurer heimgesucht. Bald haften ihnen ärgerliche Züge an, da sie mit unseren Prinzipien unvereinbar sind, bald lassen sie einen lächeln über das Menschlich-Allzumenschliche, das sich halt gelegentlich auch in eine brave Bauhütte einnistet. Insofern befinden sich die Freimaurer in bester Gesellschaft mit andern Einrichtungen, wo es ja von Zeit zu Zeit ebenfalls kriselt.
Gewappnet mit dieser Einsicht können wir nun zusammen getrost von den Höhen des Olymps hinuntersteigen und uns der Realität, dem Alltag zuwenden, denn der Freimaurerbund ist kein Klub von Schöngeistigen. Er verfolgt vielmehr praktische Ziele, versteht sich als Lebensschule und hält seine Mitglieder an, die Königliche Kunst, wie wir verallgemeinernd für Lebenskunst zu sagen pflegen, zu erlernen und allmählich zu beherrschen.
Man verkennte deshalb das Wesen dieses Bundes, erwartete man von ihm Antworten auf die Kernfragen der menschlichen Existenz oder gar gebrauchsfertige Rezepte zur Bewältigung unseres Daseins. Logen bieten dazu höchstens Rahmenbedingungen, Anregungen, Werkzeuge, überlassen es aber jedem Einzelnen, sie nach Massgabe seiner Möglichkeiten einzusetzen - inner- und ausserhalb der Loge. Wer offen und gewillt ist, den schwierigen Kampf mit sich selbst aufzunehmen, kann durch sie zu wertvollen Erfahrungen und Erkenntnissen gelangen und hier verlässliche Freundschaften schliessen. Dies eingedenk der Tatsache, dass auch andere Wege aus der Finsternis dem Licht entgegen führen.
Herkunft und Entwicklung
Um das Wesen der Freimaurerei verstehen zu können, ist es wichtig, sich zunächst die Hintergründe ihrer Entstehung und ihre Entwicklungsgeschichte zu vergegenwärtigen. Dabei dürfen wir davon ausgehen, dass die Freimaurerei weit in die Vergangenheit zurückreicht und von verschiedenen Strömungen beeinflusst worden ist. Genaueres über die Herkunft ihrer heutigen Form lässt sich aber anhand geschichtlich verbriefter Dokumente erst ab dem 17./18. Jahrhundert sagen. Blättern wir also kurz zurück. Wir leben mitten in der Aufklärung. Der europäische Absolutismus ist am Abdanken. Der politischen Willkür einer tonangebenden, korrupt und dekadent gewordenen Führungsschicht steht ein Bürgertum gegenüber, das sich seiner selbst immer mehr bewusst wird, ausbrechen will und auf die natürlichen Rechte des Individuums zu pochen beginnt. Dieser kritische Geist setzt aber auch an zum Angriff auf das magische Weltbild des Mittelalters und auf jeglichen Dogmatismus. Gefragt ist jetzt die reine Vernunft und als wahr gilt nur mehr, was sich beweisen lässt. Blinder Glaube wird ersetzt durch systematische Wahrheitssuche, und die Naturwissenschaften fangen an die Welt zu verändern. In dieser Aufbruchstimmung schliessen sich am 24. Juni 1717, dem Tag Johannes des Täufers, in London vier Freimaurerlogen zu einer Grossloge zusammen.
Damit ist etwas Wesentliches angedeutet: Wohl wurde damals Neues geschaffen, aber auf altem Boden. Denn Logen gab es schon lange zuvor. Gemeint sind damit die mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften und Dombauhütten. Sie vereinigten Baufachleute der Sakralarchitektur und fanden sich an allen wichtigen Dombauplätzen Europas. Ihre Angehörigen genossen Privilegien, die sie nach aussen ebenso hüteten wie ihre Berufsgeheimnisse. Und untereinander verständigten sie sich mit bestimmten Zeichen, Worten und Griffen. Als aber im 17. Jahrhundert die Aufträge für Kirchenbauten immer mehr schrumpften, gerieten auch die Bauhütten zusehends in personelle und finanzielle Engpässe. Die traditionsreichen und bislang nur qualifizierten Bauhandwerkern offen gestandenen Logen öffneten nun vorab in England und Schottland ihre Tore allmählich auch Männern anderer Berufe: Adligen, Gelehrten, Offizieren, Künstlern, Kaufleuten, ja selbst Geistlichen, die sich für das Vermächtnis der Bruderschaften interessierten. Diese Zuzüger waren es, welche den Logen materiell beistanden und sie auch befruchteten, indem sich ihre Tätigkeit zusehends von der operativen zu einer rein geistig-seelisch arbeitenden, zur spekulativen Maurerei verlagerte. Aus handwerklichem Brauchtum und aufklärerischem Gedankengut entwickelte sich die Vorstellung eines ideellen Tempels (der Humanität), an dem die Maurer durch Läuterung ihrer selbst und zum Wohle der Menschheit arbeiten sollten. Es ist die Freimaurerei, die wir bis zum heutigen Tag pflegen.
Ihre Grundlage bilden die 1722 entstandenen "Alten Pflichten", eine Art Ehrenkodex, auf den später noch zurückzukommen sein wird. Die Ideale der spekulativen Freimaurerei stiessen während der Aufklärung auf fruchtbaren Boden, sodass sich der Bund im 18. Jahrhundert rasch auf den ganzen Kontinent und über die Kolonialmächte auch auf die übrige Welt ausbreitete - so auch in der Schweiz. Um einen Monolithen handelt es sich bei der Freimaurerei dennoch nicht. Denn, wenngleich Grundprinzipien und Symbolik international verbindlich sind, so haben sich doch überall regionale Eigenheiten herausgebildet. Ja, es ist sogar so, dass jede Loge ein Stück weit ihr eigenes Gesicht hat und ihre eigenen Gepflogenheiten kennt. Sehr vereinfacht lässt sich sagen, dass die Freimaurerei in den angelsächsischen Ländern stets mehr gesellschaftliche Züge trug, in den romanischen oft eng mit den Trägern von Freiheitsbewegungen verbunden war, in Skandinavien beeinflusst wurde von der christlichen Mystik und in der Schweiz die individual- und sozialethischen Aspekte besonders ausgeprägt sind. Aufschlussreich ist zudem die Tatsache, dass etwa die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Proklamierung der allgemeinen Menschenrechte fast rundweg von Freimaurern getragen wurde und sich ihr im Verlaufe der Jahrhunderte immer wieder herausragende Persönlichkeiten aller konfessionellen und politischen Lager angeschlossen haben, Politiker, Dichter, Musiker, Wissenschaftler, Kaufleute usw.
In der Schweiz sind die ersten Logen durch englische Touristen und Einheimische, die in fremden Diensten gestanden und dort die Freimaurerei kennengelernt hatten, entstanden, nämlich 1736 in Genf und 1739 in Lausanne. Abgesehen von Bern, wo die Vereinigung erst 1809 ermöglicht wurde, konnte sich unser Bund darauf in weiteren Ortschaften ohne obrigkeitliche Behinderungen entfalten, so in Neuenburg, Freiburg, Basel, Zürich und dann in allen Landesteilen. Äusserlich betrachtet sind Freimaurerlogen selbständige Vereine, nach Massgabe des Zivilgesetzbuches rechtmässig konstituiert, haben ihre Statuten, werden von demokratisch gewählten Organen geleitet und führen ein allen Logenangehörigen zugängliches Mitgliederverzeichnis. In unserem Lande sind sie in der Schweizerischen Grossloge Alpina, als Dachorganisation, vereinigt. Sie zählt heute 83 Logen mit etwa 3’700 Mitgliedern in allen Landesteilen, mit Schwergewicht jedoch in den städtischen Gebieten. Sie vereinen Männer unterschiedlichster Konfessionen, Rassen, politischer Weltanschauung, Stände und Berufe.
Innere und äussere Gegner
Natürlich hat auch die Freimaurerei ihre Krisen erlebt, war sie inneren Kämpfen mit pharisäerhaften Zügen, Verrätern und Scharlatanen ausgesetzt und ist sie unter dem Vorwand fragwürdiger Verschwörungstheorien oftmals von äusseren Kräften bedrängt worden:
Vom römisch-katholischen Papsttum, von konservativ-protestantischen Staaten, von absolutistischen Herrschern sowie von Diktaturen linker und rechter Herkunft. Denn vor allem ihr Toleranzideal verträgt sich schlecht mit religiösem und politischem Dogmatismus.
Vor eine ernsthafte Bewährungsprobe gestellt wurde die schweizerische Freimaurerei 1936, als die nationalsozialistisch inspirierte Volksinitiative des schillernden Obersten Fonjallaz lanciert wurde. Diese wollte unsere und andere Vereinigungen kurzerhand verbieten, wurde aber in ihrer freiheitsfeindlichen Tendenz vom Souverän durchschaut und massiv verworfen.
Die Ziele der Freimaurerei
Sieht man sich in der Literatur herum und fragt man dort nach den Zielen des Bundes, fällt es schwer, darauf klare Auskünfte zu finden. Relativ konkret äussern sich dazu die "Allgemeinen maurerischen Grundsätzen der Schweizerischen Grossloge Alpina:
"Der Zweck des Freimaurerbundes ist die Erziehung seiner Mitglieder zum wahren Menschentum. Die Mittel zu diesem Zweck sind die Übung der von den Baubrüderschaften übernommenen symbolischen Gebräuche, gegenseitige Belehrung über die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit, Pflege des Idealen und Anregung zu wahrer Freundschaft, Erfüllung der sozialen Pflichten und Pflege der Wohltätigkeit."
Es geht also in der Freimaurerei um das Individuum, und ihr Hauptanliegen ist erzieherischer Natur. Sie läuft einerseits auf das innere Ziel der Menschwerdung und Persönlichkeitsbildung und anderseits auf die äussere Verpflichtung hinaus, die maurerischen Ideale in den Logen und im täglichen Leben aktiv umzusetzen. "Erkenne Dich selbst und werde, der Du bist", lautet deshalb der zentrale Appell, mit dem der Freimaurer immer wieder konfrontiert wird und der zum Ziel hat, im Menschen einen Wandlungs- und Reifeprozess in Gang zu setzen und zeitlebens zu halten. Diese Methode ist weder bequem noch erscheint sie besonders aktuell, sondern beruht auf der einfachen Erkenntnis, dass der Einzelne am wirksamsten dazu beiträgt, die Welt zu verbessern, indem er bei sich selbst beginnt.
Neben der Pflicht zur Arbeit am eigenen rauhen Stein wird der Freimaurer aber auch angehalten, seine Mitverantwortung als Glied der menschlichen Gemeinschaft wahr-zunehmen, indem er sich beispielsweise persönlich einsetzt für Gewissens-, Glaubens- und Geistesfreiheit, für Menschenrechte und Menschenwürde, für die Freiheit und Unabhängigkeit seines Heimatlandes, jedes aufrichtige Bekenntnis und jede ehrliche Überzeugung achtet, jede Verfolgung Andersdenkender verwirft und der Intoleranz entgegentritt.
Zugleich verpflichtet sich der Freimaurer, die Bildung und Aufklärung zu fördern, brüderliche Gesinnung gegenüber allen Mitmenschen zu üben, unabhängig ihres Glaubens, ihrer Rasse, Nationalität, ihrer politischen Parteizugehörigkeit und ihres bürgerlichen Standes.
Schliesslich verpflichtet sich der Freimaurer, regelmässig an den Logenarbeiten, wie die Freimaurer ihre Anlässe bezeichnen, teilzunehmen. Auf sie wird im Folgenden noch näher eingegangen.
Mit welchen Mitteln wird gearbeitet?
Um ihre Ziele zu verfolgen, bedient sich die Freimaurerei mehrerer Instrumente. Wir können sie grob in drei Gruppen gliedern:
1. in Grundprinzipien und Kardinaltugenden
2. in Symbole, Rituale und Grade
3. in praktische Verpflichtungen
a) Grundprinzipien und Kardinaltugenden
Diese lassen sich zusammenfassen in den Begriffen der Humanität, Toleranz und des Kosmopolitismus. Die Humanität fordert das Bekenntnis zum Mitmenschen, zur gegenseitigen Anteilnahme und Mitverantwortung im Dienste der Gemeinschaft, zu Hilfsbereitschaft, Wohltätigkeit, kurz zu aktiver Nächstenliebe aus der klaren Erkenntnis heraus, dass wir alle zusammengehören, weltweit eine Schicksalsgemeinschaft darstellen, Teile eines grossen Ganzen sind. Freimaurerische Toleranz entspringt der Einsicht, dass niemand die absolute Wahrheit besitzt und dass wir deshalb jedem auch dann mit Achtung, Verständnis und Duldsamkeit begegnen sollen, mit dessen Ansichten wir nicht einig gehen.
Ein solches Toleranzverständnis setzt voraus, dass wir gegeben-enfalls bereit sind, eigene Vorurteile und Irrtümer einzusehen und aufzugeben. Mit dem Kosmopolitismus schliesslich unterstreicht die Freimaurerei den weltumspannenden Charakter ihrer Ideale und die Notwendigkeit, allen äusseren Schranken zum Trotz zum Kern unserer Mitmenschen und des in ihnen wirkenden A.B.A.W. vorzudringen. Das bedingt, dass wir uns mit dem Andersartigen beschäftigen, ihn verstehen lernen, mehr das Gemeinsame als das Trennende suchen, ihn als Ganzes annehmen.
Während seiner Logenlaufbahn wird der Freimaurer vor allem mit drei Kardinaltugenden vertraut gemacht: mit der Justitia, Moderatio und Sapientia - zu Deutsch mit der Gerechtigkeit, Mässigung und Weisheit. Die Logenrituale fordern dazu auf, über die Natur von Recht und Gerechtigkeit nachzudenken, nach den in uns schlummernden göttlichen Gesetzen zu forschen und unser Denken, Urteilen und Handeln an ihnen zu üben. Die Tugend des zweiten Grades, die Mässigung, wird dem Freimaurer-Gesellen ans Herz gelegt, eingedenk, dass einerseits Masslosigkeit früher oder später in die Irre führt und anderseits kluges Masshalten nicht nur Entbehrungen nach sich zieht, sondern auch Gewinn in Form von neuen Erfahrungen, Einsichten, Wertvorstellungen. Im Meistergrad endlich begegnen wir der Tugend der Weisheit. Bescheiden die eigenen Grenzen und diejenigen dieses Planeten zu erkennen, sein Schicksal zu bejahen, an ihm zu arbeiten und immer wieder mal zu lächeln über sich selbst und das grosse Welttheater, sind kleine aber praxisbezogene Schritte in Richtung einer weiseren Lebensführung, bei der uns weder die Modetorheiten der Zeit, noch die wechselvollen Stürme und Schläge des Daseins so schnell aus dem Lot zu bringen vermögen.
b) Symbole, Rituale und Grade
Die Hauptsymbole der Freimaurer sind die drei grossen Lichter Bibel, Winkelmass und Zirkel. Die Bibel oder ein anderes Heiliges Buch der Kulturgeschichte der Menschheit versinnbildlicht in unsern Ritualen das Göttliche, weist uns auf das Transzendente hin und ermahnt uns zugleich, uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln von ihm leiten zu lassen. Gesetz, Recht und Ordnung werden in der Freimaurerei durch das Winkelmass symbolisiert. Es hält uns an, diese Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens in allen unseren Obliegenheiten im Augen zu behalten, gerecht gegenüber der Umwelt und kritisch gegenüber uns selbst zu bleiben. Der Zirkel schliesslich steht für eine den Bruder, alle Mitmenschen und das gesamte Sein umfangende Liebe, die immer grössere Kreise ziehen soll.
Diesen und weiteren Symbolen begegnet der Freimaurer im Rahmen so genannter Tempelarbeiten. Dabei handelt es sich um Aufnahme- oder Beförderungsfeiern, bei welchen der Neuling in einer Verbindung von Handlungen, Symbolen, Unterweisungen, Kontemplation und Musik erstmals mit dem Wesen und den Zielen des jeweiligen Grades vertraut gemacht wird und die für jeden Schlüsselerlebnisse auf seinem maurerischen Werdegang darstellen. Tempelarbeiten dienen jedoch nicht nur der Einfügung neuer Mitglieder in die Logengemeinschaft, sondern zugleich der Sammlung jedes einzelnen Bruders, der Besinnung auf die ethischen Normen des Bundes sowie der Vertiefung menschlicher Bindungen innerhalb der Bruderschaft. Einen der Höhepunkte bildet dabei ein gradspezifisches Gelöbnis. Durch die sinnlichen Erfahrungen dieser Feiern will die Freimaurerei die tieferen Schichten der Seele ansprechen und Unbewusstes ans Tageslicht heben. Da hierbei sehr persönliche Erfahrungen gemacht werden, lässt sich darüber kaum etwas mitteilen und noch weniger darüber rechten. Man muss es selber erleben.
Inneres Reifen will erdauert sein. Daher erfolgt die maurerische Erziehungsarbeit in Etappen - vom Lehrling, über den Gesellen zum Meister. Diese Stufen versinnbildlichen die menschliche Entwicklung von der Geburt über das Leben zum Tode. Im Lehrlingsgrad heisst die Losung "schau in Dich!"; folgerichtig ist die Selbsterkenntnis die Aufgabe des Maurers auf dieser Stufe. "Schau um dich!", heisst es im Gesellengrad, wo der Kandidat angehalten wird, beharrlich weiterzuarbeiten, sich in der Selbstbeherrschung zu üben und sich in die Gemeinschaft seiner Mitmenschen einzuordnen. Der Selbstvervollkommnung ist der Meistergrad geweiht; "schau über Dich!" lautet hier die Weisung; in ihm soll der alte Mensch in uns sterben und mit neuen Erkenntnissen über sich, die Welt und den Kosmos gleichnishaft wiedergeboren werden. An all das knüpfen sich verschiedene
c) praktische Verpflichtungen
So wird der Freimaurer angehalten, regelmässig an den Arbeiten seiner Loge teilzunehmen. Nicht von ungefähr!Denn es gehört zu den wertvollsten Seiten der Freimaurerei, dass sie ihre menschenbildenden Ziele nicht einseitig verfolgt, sondern verschiedene Bereiche anzusprechen und zu entwickeln versucht. Während der rituellen Tempelarbeiten sollen besonders die Gemütskräfte gefördert werden. Mehr an den Intellekt, unser Verstandes- und Vernunftspotential richten sich die Konferenzen mit Vorträgen vorab über maurerische, philosophische, psychologische, naturwissenschaftliche, staatsbürgerliche oder andere aktuelle Zeitfragen, die übrigens meist von den Logenmitgliedern selbst zu erarbeiten sind. Hinzu kommen Instruktionen über Inhalte und Brauchtum der einzelnen Grade. Beide Arbeitsformen und die ihnen vorangehenden oder folgenden geselligen Zusammenkünfte unter Menschen verschiedenster Herkunft erfüllen zudem wichtige soziale Funktionen. Von einem Mitglied werden zudem Disziplin, Vertrauenswürdigkeit, Verschwiegenheit, brüderliche Gesinnung und Versöhnlichkeit erwartet - Tugenden freilich, denen nachzuleben dem einen besser und dem andern weniger gut gelingt.
Der Freimaurerbund verfügt also über eine breite Palette von Mitteln, um seine Anliegen zu fördern, ein Angebot, das weit über die Abgabe von Literatur und das Halten von Vorträgen hinausgeht, die Gesamtpersönlichkeit des Menschen anpeilt und manche Erkenntnisse und Methoden der modernen Humanwissenschaften beinhaltet und synthetisiert. Die Frage ist indessen berechtigt, inwieweit das maurerische Brauchtum wirklich dazu beiträgt, den Menschen im Sinne der ethischen Ziele des Bundes zu beeinflussen und zu verbessern, oder ob da nicht manches ein frommer Wunsch sei und bleibe. Ich denke, man sollte die praktischen Wirkungen weder über- noch unter-schätzen, zumal jeder Mensch unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt, um etwa mit Symbolen etwas anfangen zu können.
Schwächen und Stärken
Selbstverständlich kennt auch die Freimaurerei ihre Schwachstellen. Ich denke hier beispielsweise daran, dass sie relativ stark von ihrer Vergangenheit zehrt, sich gegenüber wichtigen Zeitfragen und der Öffentlichkeit aber gerne in vornehmer Zurückhaltung übt. Zu schaffen geben ihr zuweilen auch ihre organisatorischen Strukturen mit der Grossloge von England als Ordnungs- und Moralhüterin des weltweiten Bundes und die massgeblich bestimmt, was richtige und falsche Freimaurerei ist. Für unbefriedigend gelöst halte ich ferner das Problem der Frauen-Beteiligung; hier ist aber gleich anzufügen, dass es auch gemischte und reine Frauenlogen gibt, doch unterstehen sie nicht der hier besprochenen weltweiten Gemeinschaft. Zudem darf man sich fragen, ob die Verzettelung durch verschiedene Grad-Systeme die Vereinigung insgesamt nicht eher schwächt als stärkt. Schliesslich lauert in ihren Ritualen meines Erachtens die Gefahr, in routinehaftem Formalismus zu erstarren.
Dennoch hat die Freimaurerei seit ihrer Gründung eine erstaunliche Regenerationskraft bewahrt. Persönlich halte ich die eigenartige Verbindung von Mittelalter und Aufklärung, von Esoterik und Exoterik, von Elementen, die sowohl an die Vernunft wie an das Gemüt appellieren für ihre herausragendste Leistung und für ihre eigentliche Stärke. Es gibt nur wenige Einrichtungen, die zugleich aus dem grossen Schatz vergangener Kulturen und Epochen schöpfen, diesen in der Gegenwart erfahrbar machen und als zeitlos gültige Vision auch für die Zukunft pflegen lassen. Und es gibt kaum eine andere weltumspannende Vereinigung, die auf eine so lange Tradition im Verfechten grundlegender Menschenrechte zurückblicken könnte.
Schliesslich findet sich keine vergleichbare Organisation, die so umfassend darauf ausgerichtet wäre, das Individuum immer wieder und über verschiedene Erfahrungsebenen auf seine innerste Natur und auf die Kernfragen des Lebens, seines Woher, Wozu und Wohin zurückzuführen und ihn zugleich in die Pflicht zu nehmen gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft. Dank der besinnlichen und geselligen Begegnung von Menschen verschiedenster Herkunft wird ferner in ihrem Kreise das Ideal der grenzüberschreitenden Bruderkette doch mehr als eine Floskel, sondern direkt erlebbare Wirklichkeit oder zumindest zu einem praktischen Übungsfeld für jene Tugenden, die mehr denn je nötig sind, um dem alten Traum eines verträglichen Zusammenlebens der Menschen näher zu kommen.
Ich denke, dies sei in einer Welt, die vor gewaltigen Herausforderungen steht, nicht wenig. Aber auch die Freimaurerei selbst ist aufgerufen, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen, will sie mit ihren zeitlosen Idealen auch in Zukunft bestehen und glaubwürdig bleiben.
Marco Badilatti, Altstuhlmeister der
Loge Modestia cum Libertate (Zürich)